Fehlerkultur statt Spott – Wertschätzende Kommunikation für Mut, Selbstwert und Fortschritt
- laszlokish
- 18. Okt.
- 7 Min. Lesezeit

Warum Spott unsere Fehlerkultur zerstört – und Selbstwert untergräbt | Montags-Impuls
Montagabend. Ich schalte die Late Show ein. Jon Stewart ist in Hochform. Sein Monolog über den neuesten Trump-Ausrutscher ist brilliant. Die Pointen sitzen. Die Mimik ist perfekt. Das Publikum johlt. Und ich? Ich lache Tränen.
Das ist Comedy-Gold. Präzise. Intelligent. Kunstvoll.
Jimmy Kimmel, Seth Meyers, Steven Colbert – sie alle beherrschen diese Kunst. Die Kunst des geistreichen Spotts. Sie nehmen einen Fehler, eine Peinlichkeit, eine Absurdität – und verwandeln ihn in Entertainment. In Millionen Klicks. In kulturelle Relevanz.
Und wir? Wir lieben es. Wir teilen die Clips. Wir zitieren die besten Lines. Wir amüsieren uns über die Trottel da draußen.
Und während wir lachen, fühlen wir uns: überlegen. Intelligenter. Weiser.
"Ich würde das nie sagen." "So einen Fehler würde ich nie machen." "Ich bin nicht so."
Dieses Gefühl ist köstlich. Es ist ein kurzer Rausch. Ein Dopamin-Kick der moralischen Überlegenheit.
Aber dann kommst du am nächsten Tag ins Büro. Hältst deine Präsentation. Und verwechselst zwei Zahlen. Ein kleiner Fehler. Harmlos eigentlich.
Aber du siehst es sofort: Das Grinsen in den Gesichtern. Das Augenrollen. Vielleicht sogar ein unterdrücktes Lachen.
Und plötzlich? Bist du nicht mehr überlegen. Du bist unterlegen. Jetzt bist du der Trottel. Man hält dich dafür – mit derselben Grausamkeit, mit der du am Abend über die Trottel gelacht hast, die das Weltgeschehen lenken.
Hohn und Spott kennen nur Verlierer – weil du dir selbst die Angst einprogrammierst, als Nächster ausgelacht zu werden. Grundstein für eine fehlgeleitete Fehlerkultur.
Die versteckte Rechnung: Warum jeder Spott einen Preis hat
Jedes Mal, wenn du über einen Fehler lachst, jedes Mal, wenn du spottest, trainierst du dein Gehirn. Du internalisierst eine Regel. Eine Regel, die tief in dein Unterbewusstsein sickert:
Fehler sind gefährlich. Fehler machen dich lächerlich. Fehler werden öffentlich ausgeschlachtet.
Du denkst vielleicht: "Aber ich lache doch nur über Politiker. Über Prominente. Das hat nichts mit mir zu tun."
Dein Gehirn macht diesen Unterschied nicht.
Dein limbisches System – der Teil, der für Angst und Sicherheit zuständig ist – sieht nur: "Fehler = Spott. Fehler = Demütigung. Fehler = soziale Vernichtung."
Und dann? Dann fängt das Hirn an zu arbeiten, dich zu schützen. Vor dem Spott. Vor der Peinlichkeit. Vor dem Fehler.
Also erstarrst du.
Du schickst die E-Mail nicht ab. Du sagst im Meeting nichts. Du probierst das neue Projekt nicht aus. Du wagst den mutigen Schritt nicht.
Nicht weil du nicht kannst. Sondern weil du Angst hast, als Nächster ausgelacht zu werden.
Und während du zauderst, erstarrt auch die Gesellschaft um dich herum.
Wie Spott Politik, Wirtschaft und Gesellschaft lähmt
Schau dir die Politik an. Was siehst du?
Politik besteht fast ausschließlich daraus, auf Fehler der anderen Partei zu lauern und die dann genüsslich in die Pfanne zu hauen.
Ein Versprecher? Skandal! Eine Fehleinschätzung? Rücktritt! Ein unperfekt formulierter Satz? Tage voller medialer Häme!
Gestalten scheint schon lange nicht mehr zur Kernkompetenz unserer Politiker zu gehören. Stattdessen: Fehler-Jagd. Defensive Absicherung. Bloß nichts Mutiges wagen, das könnte nach hinten losgehen.
Das Ergebnis?
Niemand wagt mutige Reformen. Niemand experimentiert mit neuen Lösungen. Niemand gibt zu, wenn etwas nicht funktioniert hat – denn das wäre politischer Selbstmord.
Stattdessen: Stillstand. Endlose Debatten über Nebensächlichkeiten. Angst vor Veränderung.
Und während die Politik erstarrt, erstarrt auch der Rest:
Unternehmer trauen sich nur noch, das zu kopieren, was bereits funktioniert. Niemand will öffentlich scheitern.
Wissenschaftler forschen nur im sicheren Mainstream. Niemand will der Witz auf der nächsten Konferenz sein.
Verleger wollen jahrelang keine Piratenbücher herausbringen. Erst als der "Fluch der Karibik" einen Hype auslöst, beginnen alle fieberhaft nach Piratengeschichten zu suchen. Das sichere kopieren. Bloss keinen Fehler machen.
Eine Gesellschaft, die Fehler verspottet, ist eine Gesellschaft, die aufhört zu wachsen.
Die besten Ideen entstehen aus Experimenten. Experimente bedeuten Scheitern. Scheitern bedeutet Fehler. Und Fehler? Werden zu Comedy-Material. Zu politischer Munition. Zu sozialem Tod.
Also hören wir auf zu experimentieren. Kollektiv. Schleichend. Ohne es zu merken.
Und am Ende sitzen wir da – gelähmt, ängstlich, erstarrt – und fragen uns, warum nichts vorangeht. Warum niemand mutige Entscheidungen trifft. Warum die Probleme unlösbar scheinen.
Die Antwort? Weil wir gelernt haben, dass Mut zu Fehlern zum Spott führt. Und niemand will der Witz sein.
Die Watson-Geschichte – Wie Fehlerkultur Vertrauen schafft
Lektion in Leadership – Lernen statt Demütigen
Ein Mitarbeiter von Thomas Watson, dem Gründer von IBM, hatte durch eine Fehlentscheidung 100.000 Dollar versenkt – damals ein Vermögen. Er ging zu Watson ins Büro, blass, zitternd, seine Kündigung bereits im Kopf formuliert.
"Ich nehme an, Sie wollen mich entlassen", sagte er.
Watson antwortete: "Sie entlassen? Ich habe gerade 100.000 Dollar in Ihre Weiterbildung investiert. Warum sollte ich Sie jetzt gehen lassen?"
100.000 Dollar in Weiterbildung investiert.
Kein Spott. Keine Häme. Keine öffentliche Demütigung. Stattdessen: Wertschätzung des Lernprozesses.
Sein Mitarbeiter machte nie wieder diesen Fehler, und IBM wurde zu einem der erfolgreichsten Unternehmen seiner Zeit.
Das ist die Macht einer fehlerfreundlichen Kultur.
Fehlerfreundlichkeit lernen – Persönlichkeitsentwicklung mit wertschätzender Kommunikation
1. Selbstaufwertungs-Check – Spott vs. Selbstwertgefühl
Das ist die unbequemste Übung. Aber die wirkungsvollste.
Eine Woche lang: Beobachte, warum du spottest. Nicht ob, sondern warum.
Wenn du über jemanden lachst – laut oder leise, öffentlich oder in deinem Kopf – halt einen Moment inne und frage dich:
"Kann es sein, dass das gerade meiner eigenen Aufwertung dient?"
Meist ist die ehrliche Antwort: Ja.
Wir spotten, um uns besser zu fühlen. Intelligenter. Überlegener. Wir brauchen den Trottel, um uns als Nicht-Trottel zu definieren. Das gilt für den lauten Spott genauso wie für das stille Schmunzeln. Das abfällige Kopfschütteln. Das innere Augenrollen.
Auch der stumme Spott soll dich aufwerten – und programmiert dir die Angst ein.
Führe eine Woche lang eine Liste – nicht was du spottest, sondern wozu er dient:
Montag: Über Politiker gelacht → Um mich klüger zu fühlen
Dienstag: Innerlich über Kollegen gespottet → Um mich überlegen zu fühlen
Mittwoch: Stummes Kopfschütteln über Nachbarn → Um mich besser zu fühlen
Das ist radikal ehrlich. Und genau deshalb so wirksam.
Denn sobald du erkennst, dass Spott nur ein billiger Trick zur Selbstaufwertung ist, verliert er seine Macht. Du merkst: Echtes Selbstwertgefühl braucht keinen Trottel als Hintergrund vor dem du dich absetzen kannst.
Und noch wichtiger: Du unterscheidest endlich zwischen Spott und herzlichem Lachen.
Herzliches Lachen MIT jemandem ist wunderbar. Von dem können wir nicht genug haben. Das verbindet. Das heilt. Das macht leichter. Das hebt die Schwingung an. Ganz im Gegensatz zum Spott.
Spott ÜBER jemanden? Macht schwerer. Trennt. Vergiftet.
2. Perspektivwechsel-Übung – Was würde Watson tun?
Wenn du das nächste Mal den Impuls hast zu spotten – über jemanden in den Nachrichten, über einen Kollegen, über einen Nachbarn – halt inne.
Drei Sekunden. Atme.
Und frage dich: "Was würde Thomas Watson jetzt tun?"
Nicht: "Wie kann ich darüber lachen?"
Sondern: "Was könnte man daraus lernen?"
Beispiel: Jemand macht einen peinlichen Fehler in einem Meeting.
Spott-Reaktion (laut oder stumm): "Was für ein Idiot! So unprofessionell!"Inneres Gefühl: Ich bin besser. Ich würde das nie machen.
Watson-Reaktion: "Interessant. Was führt dazu, dass man solche Fehler macht? Passiert mir das auch? Wie kann ich es vermeiden?"Inneres Gefühl: Ich lerne. Ich wachse. Ich verstehe.
Der Unterschied ist entscheidend:
Die Spott-Reaktion macht dich überlegen – für fünf Sekunden. Und ängstlich – für die nächsten fünf Jahre.
Die Watson-Reaktion macht dich klüger. Demütiger. Menschlicher. Und vor allem: mutiger.
3. Wertschätzungs-Experiment – Ein Tag ohne Spott
Nimm dir einen Tag. Nur einen einzigen Tag. Und verzichte komplett auf Spott – laut, leise oder stumm.
Stattdessen: Suche aktiv nach etwas, das du wertschätzen kannst. Selbst bei Menschen, die Fehler machen.
Jemand macht einen dummen Fehler? Statt zu spotten: "Immerhin hat die Person den Mut gehabt, es zu versuchen."
Das ist nicht naiv. Das ist strategische Umerziehung deines Gehirns: "Fehler sind okay. Fehler sind menschlich. Fehler sind kein Grund für Spott – und auch kein Grund, mich überlegen zu fühlen."
5 Führungs-Werkzeuge für eine wertschätzende, mutige Teamkultur
Wenn du in einer Führungsposition bist, hast du eine besondere Verantwortung – und eine besondere Chance. Du kannst eine Kultur schaffen, in der Fehler nicht zu Spott führen – sondern zu Lernen.
Dissent-Rituale & Pre-Mortem
Dissent-Rituale etablieren: In jedem Meeting rotiert die Rolle des "Advocatus Diaboli". Wer widerspricht, erfüllt eine Funktion – nicht eine Eitelkeit. Widerspruch wird zum erwarteten Beitrag.
Pre-Mortem durchführen: "Es ist ein Jahr später, das Projekt ist gescheitert – warum?" Diese Frage macht Widerspruch formal erwünscht. Du lädst Menschen ein, Fehler vorherzusehen, statt sie später auszuschlachten.
Anonyme Einwände & reversible Entscheidungen
Anonyme Einwände ermöglichen: Sammle Bedenken erst schriftlich, dann diskutiert ihr sie gemeinsam. Die Bewertungsangst sinkt dramatisch.
Reversible Entscheidungen markieren: Sage klar: "Das können wir leicht rückgängig machen." Wo Türen zurückgehen, darf man mutig lernend testen.
Leader-Vulnerabilität – Fehler teilen, Mut vervielfachen
Leader-Vulnerabilität zeigen: Teile deine eigenen Irrtümer. Öffentlich. Konkret. Wer oben eigene Fehler teilt, zieht unten mutigere Stimmen nach.
Das ist keine Schwäche. Das ist strategische Führung. Denn Teams, die Fehler machen dürfen, sind die, die echte Innovation schaffen.
Vom Spotten ins Lernen – Aufstehen, Krone richten, weitermachen
Warum Hohn und Spott nur Verlierer kennt?
Weil der Spötter sich die Angst selbst einprogrammiert – und damit alle lähmt.
Die Gesellschaft verliert Innovation und Fortschritt. Weil niemand mehr wagt, Fehler zu machen.
Aber das Schöne ist: Der Weg zurück ist möglich.
Nicht durch Gesetze. Nicht durch Appelle. Sondern durch dich.
Jedes Mal, wenn du den Impuls zu spotten wahrnimmst und stattdessen fragst "Was kann ich lernen?" – veränderst du die Kultur. Einen Moment nach dem anderen.
Der Sinn des Lebens ist das Lächeln auf dem Gesicht des anderen. Aber echte Lächeln entstehen nicht aus Spott. Sie entstehen aus Wertschätzung. Aus Respekt. Aus herzlichem Lachen MIT anderen, nicht ÜBER andere. Aus Verständnis nicht aus Spott.
Für dich – der erste Schritt zu einer fehlerfreundlichen Gesellschaft
Du bist nicht hier, um über andere zu lachen. Du bist hier, um mit anderen zu lernen. und von anderen zu lernen. Versuchen. Scheitern. Lernen. Wieder versuchen. Aufstehen, Krone richten, weitermachen.
Nicht nur für dich. Auch für die anderen. Die genauso viel Angst haben wie du.
Das ist keine Schwäche. Das ist Weisheit.
P.S.: Ja, ich weiß. Late-Night-Shows sind lustig. Spott kann brilliant sein. Ich schaue sie auch. mit grosser Freude. Aber vielleicht können wir uns fragen: Amüsieren wir uns – oder trainieren wir uns gerade die Angst an, selbst der Witz zu sein? Das ist keine moralische Frage. Das ist eine strategische.
P.P.S.: Und falls du jetzt denkst: "Aber manche Vollhonks VERDIENEN es doch, verspottet zu werden!" – dann ist das genau der Punkt. Solange wir glauben, dass irgendjemand Spott "verdient", werden wir auch glauben, dass wir ihn "verdienen" könnten. Und genau das lähmt uns.





Satire und Spott im Privaten: Ein gewaltiger Unterschied.
Satire hat eine lange Tradition (siehe Hofnarren), in die sich Stephen Colbert und andere Late Night Talker in den Medien nahtlos einreihen. Ihre bissigen Kommentare richten sich grundsätzlich nicht gegen Schwache, sondern gegen Mächtige bzw. gegen jene, die ihre Macht missbrauchen. Ihr Ziel ist es, diese zu entlarven und durch Überzeichnung und Humor zum Nachdenken anzuregen. Vor allen Dingen aber dient Satire der Entlarvung und der – wenn auch kurzfristigen – Erleichterung, über "Des Kaisers neue Kleider" von Herzen lachen zu dürfen. Hans-Christian Andersen hat diesen Mechanismus bereits 1837 im gleichnamigen Märchen auf den Punkt gebracht.
Etwas völlig anderes ist das Auslachen anderer Menschen (sofern diese nicht selbst über ihr eigenes Missgeschick…